Dr. Hansjörg Sutter

Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre

  • Bildungsprozesse des Subjekts
  • Soziomoralische Lern- und Entwicklungsprozesse
  • Demokratische Partizipation als Entwicklungschance
  • Pädagogische Professionalität und Kompetenz
  • Fallverstehen in der pädagogischen Praxis und bildungswissenschaftlichen Rekonstruktion
  • Methodologische Grundlagen Rekonstruktiver Bildungs- und Sozialforschung

Entwicklung und Sozialisation

Mit der kognitiven Wende in der Entwicklungspsychologie und der Ausdifferenzierung einer kompetenztheoretisch fundierten soziologischen Sozialisationsforschung hat sich das Verständnis von Entwicklungs- und Lernprozessen (vgl. Edelstein/Hoppe-Graff 1993; Seiler 1991) ebenso grundlegend gewandelt wie das der Sozialisation (vgl. Grundmann 1999; Leu/Krappmann 1999; Geulen/Veith 2004; Geulen 2005; Grundmann 2006; Bauer 2011; 2012; Geulen 2012) und der Erziehung (Fuhrer 2005; Grundmann 2011).

„Entwicklungspsychologische wie sozialisationstheoretische Erklärungsansätze, die sich allgemein dem Paradigma eines Interaktiven Konstruktivismus zuordnen lassen, konvergieren in fünf Grundannahmen: 1.) Kinder, Jugendliche und Erwachsene konstruieren und rekonstruieren ihr Wissen im Prozess der aktiven Auseinandersetzung mit und in ihrer Welt. Sie ordnen beständig ihre Erfahrungen neu und versuchen, diesen einen Sinn zu verleihen. Dies gilt für den Umgang mit der ‚Sachwelt’ ebenso wie für den Umgang mit anderen Personen, sozialen Beziehungen, Regeln und Institutionen der ‚Sozialwelt’. 2.) Entwicklung vollzieht sich nicht als monologischer Prozess, sondern im Bezugsrahmen sozialer Kooperation, m. a. W.: im Prozess der interindividuellen Ko-Konstruktion der Sach- und Sozialwelt. Die Bedeutung der sozialen Umwelt ist entsprechend darin zu sehen, welche Erfahrungsangebote und Möglichkeiten zur aktiven Partizipation sie dem Einzelnen in seiner Lebensgeschichte bietet. 3.) Aufseiten des sich bildenden Subjekts korrespondieren soziohistorischen Verlaufsformen sozialer Interaktionen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungsmuster, die die Ausbildung epistemischer Strukturen ebenso wie die intra- und interindividueller Entwicklungsunterschiede ermöglichen können. 4.) Die sozialisatorische Relevanz sozialer Situationen variiert dabei interindividuell in Abhängigkeit von der kognitiven, sozialkognitiven und der Ich-Entwicklung der Akteure. 5.) Sozialisatorisch potenziell wirksame Verlaufsformen sozialer Interaktionen sind ihrerseits Ausdruck unterschiedlicher soziokultureller Kontexte und Ökologien. Die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs markiert die Schnittstelle zwischen sozialisations- und gesellschaftstheoretischen Erklärungsansätzen.“ (Sutter 2009: 99; zu Literaturverweisen vgl. ebd.)

Von diesen Grundannahmen ausgehend – so meine Argumentation in Sutter 2003: 199-203, 2009: 99 f. – ist in erziehungswissenschaftlicher Perspektive von besonderem Interesse, wie pädagogische Handlungssituationen und Settings sozialisatorisch wirken, Entwicklung und Lernen des Einzelnen befördern oder aber systematisch einschränken.

Ins Zentrum erziehungswissenschaftlichen Interesses rücken damit die interaktive Emergenz pädagogischer Interaktion und deren kommunikative Vermittlung einerseits und sozial vermittelte Handlungs- und Partizipationschancen in pädagogisch verantworteten Settings sowie deren biografische Erfahrungsverarbeitung andererseits. Die empirische Rekonstruktion entsprechender Praxen erfordert hermeneutisch-rekonstruktive Verfahrensweisen, wie sie in den Forschungstraditionen der Grounded Theory, der Konversationsanalyse und der objektiven Hermeneutik entwickelt wurden. Dies gilt unter Gesichtspunkten der menschlichen Entwicklung, des Lernens und der Bildung für soziale Settings der Erziehung und Bildung wie auch der Beratung und Hilfe.

Von der hermeneutisch-rekonstruktiven Analyse pädagogischer Situationen sind nicht nur Einsichten in die Konstitutionsbedingungen der interessierenden pädagogischen Praxis sowie in entwicklungsförderliche oder hemmende Bedingungen der sozialen Situation zu erwarten. Es lassen sich auch Strukturmodelle abstrahieren, die ein ‚entwicklungsorientiertes pädagogisches Fallverstehen’ anleiten können: in der pädagogischen Situation selbst oder – retrospektiv – anlässlich von deren Reflexion (Sutter 2003b; 2004; 2007a; 2009; in Vorb.). In dieser Hinsicht konvergieren entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Fragestellungen auf der einen und professionalisierungstheoretische Fragestellungen auf der anderen Seite.

Soziomoralische Lern- und Entwicklungsprozesse

Meine Forschungsarbeiten beziehen sich insbesondere auf entwicklungspsychologische, sozialisationstheoretische und methodologische Fragestellungen. Theoriegeschichtlicher Ausgangspunkt ist die Kritik und Überwindung der strukturfunktionalistischen Sozialisationsforschung Parsonscher Prägung durch Arbeiten von Jürgen Habermas, Ulrich Oevermann und Lothar Krappmann und die in diesen Arbeiten vollzogene Integration entwicklungspsychologischer und soziologisch-sozialisationstheoretischer Erklärungsansätze.

Die sozialkognitive Forschungstradition und Psychologie der Moralentwicklung sowie demokratiepädagogische Fragestellungen stehen im Mittelpunkt zweier DFG-Projekte, an denen ich in unterschiedlichen Funktionen beteiligt war: ‚Rekonstruktion und Vergleich von Gerechtigkeitsstrukturen an Schulen’ (1989-1991) und ‚Rekonstruktion sozial-kognitiver und sozio-moralischer Lernprozesse im Rahmen eines demokratisch geregelten Vollzugs als ‚Just Community'’ (1994-1999).

Entwicklungsorientiertes Fallverstehen

Die Konzeptualisierung eines entwicklungsorientierten pädagogischen Fallverstehens und die hierbei leitende Integration von entwicklungspsychologischen, sozialisationstheoretischen und professionalisierungstheoretischen Grundannahmen ist Gegenstand einer aktuellen Pilotstudie zu ‚Fallverstehen in der pädagogischen Praxis und bildungswissenschaftlichen Rekonstruktion’ (2015-2017).

Interdisziplinäre Fragestellungen

Interdisziplinäre Fragestellungen und die Weiterentwicklung hermeneutisch-rekonstruktiver Forschungsmethoden stehen schließlich im Mittelpunkt meiner Herausgebertätigkeit (2000-2009). Herausgeberisch betreute Themenschwerpunkte der peer reviewten Zeitschrift sozialersinn waren u.a. Deutungsmuster und Begriffsentwicklung mit Beiträgen von U. Oevermann und B. Seiler (2001), Systemic Learning mit Beiträgen von M. Miller, K. Eder, U. Schimank und M. Grundmann (2002), Verwandtschaft und Freundschaft mit interdisziplinären Tagungsbeiträgen von R. Stichweh, G. Lubich, P.M. Kappeler, J. Ziker, C. Risseeuw, M. Keller und A. Silver (2003), Politische Sozialisation mit Beiträgen von M. Proske, D. Geulen und M. Brumlik (2003), Rekonstruktive Bildungsforschung mit Beiträgen von H. Oswald, H. Sutter, D. Garz, U. Oevermann und F.-U. Kolbe (2004), Biografische Forschung im Migrationskontext mit Beiträgen von R. Breckner und A. Juhasz (2005), Historische Strukturierung von Biografien mit Beiträgen von P. Alheit und G. Rosenthal (2005), Professionalität in Handlungsfeldern sozialer Arbeit mit Beiträgen von K.-F. Bohler, P. Closs/S. Kongeter, E. Nadai und Ch. Magnin (2006), Biografie, Videografie, Bildhermeneutik mit Beiträgen von N. Witte/G. Rosenthal und S. Kurzke-Maasmeier (2007), Wissenschaft, Biografie und Erfahrung mit Beiträgen von A. Franzmann und T. Loer (2008) sowie Exklusion mit Beiträgen von W. Ludwig-Mayerhofer, Ch. Magnin und E. Nadai (2009).

Publikationen

Oevermanns methodologische Grundlegung rekonstruktiver Sozialwissenschaften

Die methodologischen Grundannahmen einer sinnverstehenden, hermeneutisch-rekonstruktiven Erfahrungswissenschaft diskutiere ich in dem Beitrag ‚Oevermanns methodologische Grundlegung rekonstruktiver Sozialwissenschaften’ (Sutter 1994). Unter Bezugnahme auf Habermas sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie und dessen Schriften zur Logik der Sozialwissenschaften rekonstruiert der Beitrag die methodologische Grundlegung der objektiven Hermeneutik und deren zentralen Verfahrensprinzipien.

Bildungsprozesse des Subjekts

Das sozialisationstheoretische Theorie- und Forschungsprogramm Oevermanns wird in meiner Monografie ‚Bildungsprozesse des Subjekts’ (Sutter 1997) in werkgeschichtlicher Perspektive rekonstruiert. Oevermann plädiert im Anschluss an seine breit rezipierten Arbeiten zu Sprache und sozialer Herkunft für einen Paradigmenwechsel in der Sozialisationsforschung und vollzieht diesen in eigenen Beiträgen zu einer Theorie der Bildungsprozesse des Subjekts wie auch zur Begründung einer hermeneutisch-rekonstruktiven Erfahrungswissenschaft. Die Monografie rekonstruiert die Grundannahmen dieses Theorie- und Forschungsprogramms sowie die darin angelegte Integration von Chomskys Theorie linguistischer Kompetenz, Piagets kognitiver Entwicklungspsychologie, Freuds Psychoanalyse und Meads soziologischer Erklärung von Prozessen der Individuierung. Die Aktualität der sozialisationstheoretischen Schriften Oevermanns wird dabei unter Bezugnahme auf die neuere entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Theoriediskussion ausgewiesen. Die in den 80er und 90er Jahren kontroverse Bedeutung des Theorie- und Forschungsprogramms Oevermanns sowie der von ihm begründeten Methodologie einer objektiven Hermeneutik ist heute mit Blick auf die weitere Werkentwicklung wie auch Standardwerke der Sozialisations- und Biografieforschung, der Professionalisierungstheorie und der Methodologie Qualitativer Sozialforschung unstrittig. Vgl. Bauer 2011: 207; Geulen 2005: 74-76; Honig 2009: 791-792; Hurrelmann 2006: 96-98; Scherr 2010: 68.

Sozio-moralische Lern- und Entwicklungsprozesse

Soziomoralische Lern- und Entwicklungsprozesse und in diesem Zusammenhang die sozialisatorische Relevanz des ‚Just Community’-Settings in institutionellen Kontexten der Erziehung und Bildung sind Thema meiner aktuellen Arbeiten. Diese knüpfen an die Piaget/Kohlberg-Tradition der entwicklungspsychologischen Moralforschung ebenso an wie an die soziologisch-sozialisationstheoretisch orientierten Arbeiten von Jürgen Habermas und Ulrich Oevermann. Empirisch beziehen sich unveröffentlichte frühe Arbeiten im Rahmen des DFG-Projekts ‚Rekonstruktion und Vergleich von Gerechtigkeitsstrukturen an Schulen‘ auf schulische Unterrichtsprozesse (Sutter 1993) und aktuelle Publikationen auf einen von der DFG geförderten, Mitte der neunziger Jahre initiierten und über sechs Jahre wissenschaftlich begleiteten Modellversuch zur Förderung demokratischer Partizipation im Jugendalter. Gegenüber der US-amerikanischen ‚Just Community’-Forschung abweichende Untersuchungsbefunde auf der einen (Brumlik/Sutter 1996; Brumlik/Sutter/Weyers 2000) und aktuelle Forschungsbefunde zur Entwicklung im Kindes- und Jugendalter auf der anderen Seite (Eckensberger 1998; Edelstein et al. 1990; Keller 1996; Keller/Malti 2008; Nunner-Winkler 2004; Nunner-Winkler et al. 2006; Weinert 1998) führen zu einer Kritik und Rekonzeptualisierung der Kohlbergschen Entwicklungstheorie und zu einer Reinterpretation der sozialisatorischen Relevanz des ‚Just Community’-Settings.

Der Beitrag ‚Sozio-moralische Lern- und Entwicklungsprozesse. Perspektiven einer soziologisch-strukturtheoretischen Forschung und Kritik an Kohlbergs kognitionszentrierter Entwicklungspsychologie und 'Just Community'-Forschung‘ (Sutter 2003a) akzentuiert die grundlagentheoretische Fundierung einer erziehungswissenschaftlichen Moralforschung im Bezugsrahmen einer hermeneutisch-rekonstruktiven Bildungsforschung. Diese bedarf notwendigerweise einer interdisziplinären Fundierung, wobei das erziehungswissenschaftliche Interesse insbesondere der hermeneutischen Rekonstruktion der Entwicklungs- und Bildungsbedeutsamkeit pädagogischer Praxis- und Kooperationsformen gilt und damit der Schnittstelle von sozialer Strukturierung und Konstituierung des Erfahrungsangebotes einerseits und der individuellen Handlungsstrukturierung auf der Folie der sozial vermittelten Partizipationschancen sowie der individuellen Erfahrungsverarbeitung und kognitiven Strukturierung des Handlungsfeldes andererseits (vgl. Sutter 2003, 199-203).

Demokratische Partizipation als Entwicklungschance

Diese Forschungsstrategie wird exemplarisch ausgewiesen in einzelfallrekonstruktiven Analysen zu moralischer Sozialisation und demokratischer Partizipation im Jugendstrafvollzug: ‚Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen in einem demokratisierten Vollzug‘ (Sutter 2003b) und ‚Pädagogische Interaktion. Eine hermeneutisch-rekonstruktive Fallstudie zur kommunikativen Konstruktion der Verständigungsverhältnisse in institutionellen Kontexten der Erziehung‘ (Sutter 2009).

Ausgehend von allgemeinen Grundannahmen zu Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf wird material veranschaulicht, wie die sozialisatorische Schnittstelle der Subjekt-Umwelt-Interaktion einer empirischen Rekonstruktion zugeführt werden kann. Die einzelfallrekonstruktive Analyse der sozialen Strukturierung und Konstituierung des Erfahrungsangebots in einem pädagogischen Setting illustriert das diagnostische Potenzial einer kompetenztheoretisch fundierten, sequenzanalytischen Rekonstruktion pädagogischer Interaktion unter dem Gesichtspunkt der methodischen Vorgehensweise wie auch der theoretischen Abstrahierung der sozialisatorischen Relevanz des pädagogischen Settings. Auf der Basis fallkontrastierender Analysen zu dem pädagogischen Setting vor und nach Einführung eines Modellversuchs zur Förderung demokratischer Partizipation lassen sich Entwicklungs- und Lernprozesse verhindernde wie auch konstituierende Faktoren rekonstruktiv erschließen und auf Reproduktionsmechanismen und Transformationsspielräume der analysierten pädagogischen Praxis rückführen. Allgemeine Schlussfolgerungen zu Grundannahmen und -prinzipien eines entwicklungsorientierten Fallverstehens sozialer und pädagogischer Praxen weisen die interaktive Emergenz pädagogischer Interaktion und deren kommunikative Vermittlung als primären Gegenstand und die soziale Situation als zentrale Analyseeinheit eines pädagogischen Fallverstehens aus. Objektiv-hermeneutische Verfahrensprinzipien erweisen sich dabei als methodische Grundoperationen einer anwendungsorientierten, sozialisationstheoretischen Grundlagenforschung wie auch eines methodisch kontrollierten, sozial- und verhaltenswissenschaftlich fundierten Fallverstehens in der klinischen und pädagogischen Praxis.

Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit

Eine Schlüsselstellung nimmt der peer reviewte Zeitschriftenbeitrag ‚Entwicklungsorientiertes Fallverstehen. Eine hermeneutisch-rekonstruktive Fallstudie zur Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit‘ (Sutter 2004) ein. Ausgangspunkt dieses Beitrags sind kognitionspsychologische Messprobleme sowie aktuelle und in der entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretischen Grundlagenforschung kontrovers konzeptualisierte Problemstellungen moralischer Entwicklung.

Kohlbergs Psychologie der Moralentwicklung unterstellt, von affektiven Faktoren der Urteilsbildung abstrahieren und kognitive Strukturen sozialen Verstehens und moralischen Urteilens diagnostisch im Sinne eigenständiger Entwicklungsdimensionen unterscheiden zu können. Aktuelle Forschungsbefunde legen eine handlungstheoretische Rekonstruktion der Stufentheorie Kohlbergs nahe oder stellen stufentheoretische Konzeptualisierungen in der Kohlberg-Tradition prinzipiell in Frage. Dies zeitigt weit reichende Folgen für das Verständnis soziomoralischer Lern- und Entwicklungsprozesse und deren methodisch kontrollierten hermeneutischen Rekonstruktion. Am Beispiel zweier Interviews im Pre-Post-Test-Vergleich werden jene Analysedimensionen ausgewiesen, die eine hermeneutische Rekonstruktion biografisch vermittelter Lern- und Entwicklungsprozesse anleiten können: Primäre Analyseeinheit ist nicht das moralische Argument, sondern die soziale Situation. Methodologisch setzt dies die Berücksichtigung sequenzanalytischer Verfahrensprinzipien voraus. Anders als es das standardisierte Auswertungsverfahren der Kohlbergschule vermag, wird in der sequenzanalytischen Rekonstruktion das Zusammenspiel der handlungspraktisch und situativ relevanten Faktoren empirisch rekonstruiert. Neben der Kohlberg primär interessierenden kognitiven Strukturierung moralischer Urteile kommt damit die Aktualgenese moralischen Urteilens und Handelns ebenso in den Blick wie die soziale Situation, in der eine Person agiert.

Demokratische Partizipation im Jugendstrafvollzug

Die hermeneutisch-rekonstruktiv ausgewiesene Modellbildung eröffnet die Perspektive, den Modellversuch zur Förderung demokratischer Partizipation im Jugendstrafvollzug sozialisationstheoretisch zu rekonstruieren – unter Berücksichtigung auch jener empirischen Befunde, die sich im Bezugsrahmen der US-amerikanischen Just Community Forschung nicht erklären lassen. Dies wird, vorangegangene Arbeiten aufgreifend in dem ebenfalls peer reviewten Beitrag ‚Demokratische Partizipation im Jugendstrafvollzug. Erziehungswissenschaftliche Rekonstruktion eines Modellversuchs‘ (Sutter 2007a) geleistet.

Die pädagogische Programmatik des ‚Just Community'-Ansatzes zielt in entwicklungspsychologischer Perspektive auf die Förderung sozialkognitiver und soziomoralischer Lern- und Entwicklungsprozesse. Das von Lawrence Kohlberg begründete Konzept kann dabei als ein auch empirisch gut erforschter Ansatz der Demokratieerziehung angesehen werden. Ein zentrales Desiderat der US-amerikanischen ‚Just Community'-Forschung ist jedoch darin zu sehen, dass weder Modelle noch Methoden zur Verfügung stehen, um Widersprüche und Krisenphänomene einer interessierenden pädagogischen Praxis in ihren entwicklungspsychologischen wie sozialisationstheoretischen Implikationen beschreiben und verstehen zu können. Der Beitrag ‚Demokratische Partizipation im Jugendstrafvollzug‘ (Sutter 2007a) entwickelt im Bezugsrahmen einer hermeneutisch-rekonstruktiven Fallstudie empirisch fundierte Erklärungsmodelle. Die soziale Dynamik der Aushandlungsprozeduren demokratischer Selbstbestimmung und Interessenvertretung eröffnet Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, die soziomoralische Lern- und Entwicklungsprozesse ermöglichen. Im Vollzugsalltag erfordert diese Dynamik eine fortlaufende Ausbalancierung und Koordinierung widerstreitender Interessen, Normensysteme und Loyalitätsverpflichtungen. Abhängig von der Erfahrungsbiografie der Akteure eröffnet dies folgende Lern- und Entwicklungschancen: Die Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung affektiver, kognitiver und sozialkognitiver Schemata, die Entwicklung kognitiv-struktureller Fähigkeiten zur Differenzierung und Koordinierung von Perspektiven und die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten, insbesondere der Fähigkeit zur situationsangemessenen Verbalisierung fraglicher Sachverhalte.

Auf Grundlage dieses Beitrags akzentuiert ein, dem Publikationsanlass entsprechend kurzer Festschriftbeitrag für Micha Brumlik zum 60. Geburtstag schließlich die erziehungswissenschaftliche Profilierung meines Forschungsschwerpunktes der vergangenen Jahre im Überblick: ‚Moralische Entwicklung und demokratische Partizipation in der Perspektive rekonstruktiver Bildungsforschung‘ (Sutter 2007b). Der Beitrag greift thematisch die mehrjährigen pädagogisch-praktischen Erfahrungen in dem Modellversuch zur Förderung demokratischer Partizipation im Jugendstrafvollzug auf und fokussiert die zentralen Befunde und Erklärungsleistungen der sozialisationstheoretischen Rekonstruktion des Modellversuchs im Bezugsrahmen der aktuellen Moralforschung. In der Konsequenz begründet die sozialisationstheoretische Rekonstruktion des Modellversuchs die Unterscheidung von zwei moralpädagogischen Varianten des ‚Just Community‘-Ansatzes, denen in der pädagogischen Praxis unterscheidbare Aneignungsformen des pädagogisch verantworteten Settings demokratischer Partizipation sowie unterschiedliche Strategien pädagogischen Handelns und Foki der pädagogischen Reflexion korrespondieren: in der erziehungswissenschaftlichen Perspektive der empirischen Rekonstruktion wie auch der pädagogisch programmatischen Grundlegung von Konzepten der Demokratie- und Werteerziehung im Jugendalter (vgl. Sutter 2003a, 192ff; 2007b, 192).

Fallverstehen in der pädagogischen Praxis und bildungswissenschaftlichen Rekonstruktion

Die vorliegenden Arbeiten weisen grundlagentheoretisch über den eingeschränkten Gegenstandsbereich erziehungswissenschaftlicher Moralforschung hinaus. Sie akzentuieren in erziehungswissenschaftlicher Perspektive ein Forschungsprogramm, in dessen Zentrum die empirische Rekonstruktion des Erfahrungsangebots in institutionellen Kontexten der Erziehung, Bildung, Beratung und Hilfe sowie deren Wechselwirkung mit individuellen Handlungs- und Erfahrungsmustern auf Seiten der sich bildenden Subjekte steht. In künftigen Arbeiten gilt es die hierzu notwendige Integration sozialisations-, biografie- und professionalisierungstheoretischer Erklärungsansätze voranzutreiben und empirisch fundierte Konzepte und Modelle pädagogischen Fallverstehens zu entwickeln (vgl. Aufenanger et al. 2005; Kolbe/Sutter 2002; Sutter 2005; Sutter 2007a; Sutter 2009; Sutter i.V.).

Entsprechende Fragestellungen stehen im Zentrum meines erziehungswissenschaftlichen Forschungsinteresses wie auch meiner universitären Lehre. In deren Mittelpunkt stehen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft zuordenbare sozialisationstheoretische, professionalisierungstheoretische und forschungsmethodologische Themenstellungen. Im Rahmen der Vertretung der Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Heidelberg (2005-2009) wurde das Lehrangebot um sozialpädagogische und beratungswissenschaftliche Themenstellungen, im Rahmen der Dozentur für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialisations- und Bildungsprozesse (2009-2015) – eine Hochdeputatsstelle mit dem Schwerpunkt Lehre – um schulpädagogische und bildungssoziologische Themenstellungen sowie demokratiepädagogische und politikdidaktische Fragestellungen erweitert.

Informationen zu universitärer Lehre und Lehrveranstaltungen

Literatur

Aufenanger, S./Beck, Ch./Garz, D./Hamburger, F./Hummrich, M./Kolbe, F.-U./Schelle, C./Schweppe, C./Sutter, H./von Felden, H. (2005): Prozesse pädagogischer Interaktion und Pädagogische Professionalität im Fallbezug. Konzept für eine Forschergruppe im Rahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Antrag. Mainz.

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