Entwicklung und Sozialisation
Mit der kognitiven Wende in der Entwicklungspsychologie und der Ausdifferenzierung einer kompetenztheoretisch fundierten soziologischen Sozialisationsforschung hat sich das Verständnis von Entwicklungs- und Lernprozessen (vgl. Edelstein/Hoppe-Graff 1993; Seiler 1991) ebenso grundlegend gewandelt wie das der Sozialisation (vgl. Grundmann 1999; Leu/Krappmann 1999; Geulen/Veith 2004; Geulen 2005; Grundmann 2006; Bauer 2011; 2012; Geulen 2012) und der Erziehung (Fuhrer 2005; Grundmann 2011).
„Entwicklungspsychologische wie sozialisationstheoretische Erklärungsansätze, die sich allgemein dem Paradigma eines Interaktiven Konstruktivismus zuordnen lassen, konvergieren in fünf Grundannahmen: 1.) Kinder, Jugendliche und Erwachsene konstruieren und rekonstruieren ihr Wissen im Prozess der aktiven Auseinandersetzung mit und in ihrer Welt. Sie ordnen beständig ihre Erfahrungen neu und versuchen, diesen einen Sinn zu verleihen. Dies gilt für den Umgang mit der ‚Sachwelt’ ebenso wie für den Umgang mit anderen Personen, sozialen Beziehungen, Regeln und Institutionen der ‚Sozialwelt’. 2.) Entwicklung vollzieht sich nicht als monologischer Prozess, sondern im Bezugsrahmen sozialer Kooperation, m. a. W.: im Prozess der interindividuellen Ko-Konstruktion der Sach- und Sozialwelt. Die Bedeutung der sozialen Umwelt ist entsprechend darin zu sehen, welche Erfahrungsangebote und Möglichkeiten zur aktiven Partizipation sie dem Einzelnen in seiner Lebensgeschichte bietet. 3.) Aufseiten des sich bildenden Subjekts korrespondieren soziohistorischen Verlaufsformen sozialer Interaktionen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungsmuster, die die Ausbildung epistemischer Strukturen ebenso wie die intra- und interindividueller Entwicklungsunterschiede ermöglichen können. 4.) Die sozialisatorische Relevanz sozialer Situationen variiert dabei interindividuell in Abhängigkeit von der kognitiven, sozialkognitiven und der Ich-Entwicklung der Akteure. 5.) Sozialisatorisch potenziell wirksame Verlaufsformen sozialer Interaktionen sind ihrerseits Ausdruck unterschiedlicher soziokultureller Kontexte und Ökologien. Die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs markiert die Schnittstelle zwischen sozialisations- und gesellschaftstheoretischen Erklärungsansätzen.“ (Sutter 2009: 99; zu Literaturverweisen vgl. ebd.)
Von diesen Grundannahmen ausgehend – so meine Argumentation in Sutter 2003: 199-203, 2009: 99 f. – ist in erziehungswissenschaftlicher Perspektive von besonderem Interesse, wie pädagogische Handlungssituationen und Settings sozialisatorisch wirken, Entwicklung und Lernen des Einzelnen befördern oder aber systematisch einschränken.
Ins Zentrum erziehungswissenschaftlichen Interesses rücken damit die interaktive Emergenz pädagogischer Interaktion und deren kommunikative Vermittlung einerseits und sozial vermittelte Handlungs- und Partizipationschancen in pädagogisch verantworteten Settings sowie deren biografische Erfahrungsverarbeitung andererseits. Die empirische Rekonstruktion entsprechender Praxen erfordert hermeneutisch-rekonstruktive Verfahrensweisen, wie sie in den Forschungstraditionen der Grounded Theory, der Konversationsanalyse und der objektiven Hermeneutik entwickelt wurden. Dies gilt unter Gesichtspunkten der menschlichen Entwicklung, des Lernens und der Bildung für soziale Settings der Erziehung und Bildung wie auch der Beratung und Hilfe.
Von der hermeneutisch-rekonstruktiven Analyse pädagogischer Situationen sind nicht nur Einsichten in die Konstitutionsbedingungen der interessierenden pädagogischen Praxis sowie in entwicklungsförderliche oder hemmende Bedingungen der sozialen Situation zu erwarten. Es lassen sich auch Strukturmodelle abstrahieren, die ein ‚entwicklungsorientiertes pädagogisches Fallverstehen’ anleiten können: in der pädagogischen Situation selbst oder – retrospektiv – anlässlich von deren Reflexion (Sutter 2003b; 2004; 2007a; 2009; in Vorb.). In dieser Hinsicht konvergieren entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Fragestellungen auf der einen und professionalisierungstheoretische Fragestellungen auf der anderen Seite.
Soziomoralische Lern- und Entwicklungsprozesse
Meine Forschungsarbeiten beziehen sich insbesondere auf entwicklungspsychologische, sozialisationstheoretische und methodologische Fragestellungen. Theoriegeschichtlicher Ausgangspunkt ist die Kritik und Überwindung der strukturfunktionalistischen Sozialisationsforschung Parsonscher Prägung durch Arbeiten von Jürgen Habermas, Ulrich Oevermann und Lothar Krappmann und die in diesen Arbeiten vollzogene Integration entwicklungspsychologischer und soziologisch-sozialisationstheoretischer Erklärungsansätze.
Die sozialkognitive Forschungstradition und Psychologie der Moralentwicklung sowie demokratiepädagogische Fragestellungen stehen im Mittelpunkt zweier DFG-Projekte, an denen ich in unterschiedlichen Funktionen beteiligt war: ‚Rekonstruktion und Vergleich von Gerechtigkeitsstrukturen an Schulen’ (1989-1991) und ‚Rekonstruktion sozial-kognitiver und sozio-moralischer Lernprozesse im Rahmen eines demokratisch geregelten Vollzugs als ‚Just Community'’ (1994-1999).
Entwicklungsorientiertes Fallverstehen
Die Konzeptualisierung eines entwicklungsorientierten pädagogischen Fallverstehens und die hierbei leitende Integration von entwicklungspsychologischen, sozialisationstheoretischen und professionalisierungstheoretischen Grundannahmen ist Gegenstand einer aktuellen Pilotstudie zu ‚Fallverstehen in der pädagogischen Praxis und bildungswissenschaftlichen Rekonstruktion’ (2015-2017).
Interdisziplinäre Fragestellungen
Interdisziplinäre Fragestellungen und die Weiterentwicklung hermeneutisch-rekonstruktiver Forschungsmethoden stehen schließlich im Mittelpunkt meiner Herausgebertätigkeit (2000-2009). Herausgeberisch betreute Themenschwerpunkte der peer reviewten Zeitschrift sozialersinn waren u.a. Deutungsmuster und Begriffsentwicklung mit Beiträgen von U. Oevermann und B. Seiler (2001), Systemic Learning mit Beiträgen von M. Miller, K. Eder, U. Schimank und M. Grundmann (2002), Verwandtschaft und Freundschaft mit interdisziplinären Tagungsbeiträgen von R. Stichweh, G. Lubich, P.M. Kappeler, J. Ziker, C. Risseeuw, M. Keller und A. Silver (2003), Politische Sozialisation mit Beiträgen von M. Proske, D. Geulen und M. Brumlik (2003), Rekonstruktive Bildungsforschung mit Beiträgen von H. Oswald, H. Sutter, D. Garz, U. Oevermann und F.-U. Kolbe (2004), Biografische Forschung im Migrationskontext mit Beiträgen von R. Breckner und A. Juhasz (2005), Historische Strukturierung von Biografien mit Beiträgen von P. Alheit und G. Rosenthal (2005), Professionalität in Handlungsfeldern sozialer Arbeit mit Beiträgen von K.-F. Bohler, P. Closs/S. Kongeter, E. Nadai und Ch. Magnin (2006), Biografie, Videografie, Bildhermeneutik mit Beiträgen von N. Witte/G. Rosenthal und S. Kurzke-Maasmeier (2007), Wissenschaft, Biografie und Erfahrung mit Beiträgen von A. Franzmann und T. Loer (2008) sowie Exklusion mit Beiträgen von W. Ludwig-Mayerhofer, Ch. Magnin und E. Nadai (2009).