Dr. Hansjörg Sutter


Hansjörg Sutter

Entwicklungsorientiertes Fallverstehen

Eine hermeneutisch-rekonstruktive Fallstudie zur Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit

In: sozialer sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung 5 (2004). 335-386


Abstract: Kohlbergs Psychologie der Moralentwicklung unterstellt, von affektiven Faktoren der Urteilsbildung abstrahieren und kognitive Strukturen sozialen Verstehens und moralischen Urteilens diagnostisch im Sinne eigenständiger Entwicklungsdimensionen unterscheiden zu können. Aktuelle Forschungsbefunde legen eine handlungstheoretische Rekonstruktion der Stufentheorie Kohlbergs nahe oder stellen stufentheoretische Konzeptualisierungen in der Kohlberg-Tradition prinzipiell in Frage. Dies zeitigt weit reichende Folgen für das Verständnis soziomoralischer Lern- und Entwicklungsprozesse und deren methodisch kontrollierten hermeneutischen Rekonstruktion. Am Beispiel zweier Interviews aus einem Modellversuch zur Förderung demokratischer Partizipation im Jugendstrafvollzug werden jene Analysedimensionen ausgewiesen, die eine hermeneutische Rekonstruktion biografisch vermittelter Lern- und Entwicklungsprozesse anleiten können. Primäre Analyseeinheit ist nicht das moralische Argument, sondern die soziale Situation. Methodologisch setzt dies die Berücksichtigung sequenzanalytischer Verfahrensprinzipien voraus. Anders als es das standardisierte Auswertungsverfahren der Kohlbergschule vermag, wird in der sequenzanalytischen Rekonstruktion das Zusammenspiel der handlungspraktisch und situativ relevanten Faktoren empirisch rekonstruiert. Neben der Kohlberg primär interessierenden kognitiven Strukturierung moralischer Urteile kommt damit die Aktualgenese moralischen Urteilens und Handelns ebenso in den Blick wie die soziale Situation, in der eine Person agiert.

Schlagworte: soziale Kognition, moralisches Urteil, moralische Entwicklung, Demokratie und Moralerziehung, Fallverstehen, hermeneutische Rekonstruktion